Stefan Appelius


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Die zwei Tode der Marienetta Jirkowsky

Politisches Lernen

Die zwei Tode der Marienetta Jirkowsky

Von Stefan Appelius

Sie war 18, als sie 1980 im Kugelhagel der Grenzer starb. Ein Kreuz am Reichstag erinnert an Marienetta Jirkowsky, nun soll auch ein Platz nach ihr benannt werden - doch ihre Familie will das mit allen Mitteln verhindern. Dürfen Angehörige das Gedenken an ein SED-Opfer bestimmen? Und was treibt sie?

Das Knattern von MG-Salven schreckt am frühen Morgen des 22. November 1980 Anwohner von Hohen Neuendorf im Nordwesten Berlins aus dem Schlaf. Immer wieder peitschen Schüsse durch die Nacht, minutenlang. Dann wird es wieder ganz still, sehen können die Zeugen der gespenstischen Szene nichts. Die Uhr zeigt 3.45.

Es ist der Morgen, an dem Marienetta Jirkowsky stirbt. Die junge Frau wird beim Versuch, über die Mauer zu klettern, von DDR-Grenzern erschossen. Sie ist 18 Jahre alt. Zur Erinnerung setzt der Berliner Bürgerverein kurz nach Marienettas gewaltsamen Tod direkt an der Fluchtstelle ein Gedenkkreuz. Später kommt eine Erinnerungstafel am Spreeufer beim Reichstag hinzu. Und die Stadtverordnetenversammlung von Hohen Neuendorf beschließt zwei Jahrzehnte nach dem Mauerfall im November 2009, einen Platz nach Marienetta Jirkowsky zu benennen.

Doch das mit dem Erinnern und Gedenken kann eine verflixte Sache sein. Schon kurz nach dem Mauermord an der 18-Jährigen kam das Mahnmal am Tatort abhanden. Auf der Tafel am Reichstag, einem großen weißen Kreuz, ist Marienettas Name falsch geschrieben. Und auch um die Platzbenennung gibt es drei Jahrzehnte nach der Tat wieder mächtig Ärger. Doch der Reihe nach.

"Sie wusste doch, was sie tut"

Das weiße Holzkreuz, das kurz nach den Todesschüssen am Tatort in der Invalidensiedlung in Frohnau errichtet wurde, stahl schon kurz darauf ein Top-Spitzel der DDR-Staatssicherheit. Im Kofferraum eines ahnungslosen westdeutschen Diplomatensohnes schaffte IMB "Brunnen" das sperrige Stück nach Ost-Berlin, um seinem Führungsoffizier zu imponieren. Parallel versuchte die Stasi mit großem Aufwand, möglichst alle Fotos und sonstigen Erinnerungen an das Opfer zu vernichten - unbedingt sollte verhindert werden, dass ein Bild Marienettas in den Westen gelangte.

Doch die Netzmaschen der staatlichen Erinnerungsjäger waren nicht eng genug - ein Passfoto der hübschen jungen Frau fand doch den Weg durch jene Mauer, die sie das Leben gekostet hatte. Es landete bei Rainer Hildebrandt, dem umtriebigen Chef des "Mauermuseums" am Checkpoint Charlie, wo es noch immer verwahrt wird. Bis heute gilt dieses Foto als einzige existierende Aufnahme der jungen Toten.

Spreenhagen ist ein verschlafenes Nest bei Fürstenwalde, südöstlich von Berlin. Hier Menschen zu finden, die sich an Marienetta erinnern und darüber sprechen wollen, ist fast unmöglich. Die Menschen sind misstrauisch und verschlossen, wollen nicht zitiert werden. Hier herrschte vor 1989 der Stasi-Offizier Adolf Storch, langjähriger Chef der MfS-Kreisdienststelle Fürstenwalde und Führungsoffizier des Kreuzdiebs. Dass die DDR ein Unrechtsstaat gewesen sei, findet hier auch heute fast niemand. Fluchtversuche seien ja strafbar gewesen, hört man, wenn man Einwohner auf Marienetta anspricht: "Sie wusste doch, was sie tat."

Prügel wegen Nichtigkeiten

Als Marienetta Jirkowsky 1962 in Bad Saarow geboren wird, leistet ihr Vater Klaus gerade seinen Wehrdienst an der innerdeutschen Grenze ab. Der gelernte Maurer ist ein freundlicher Mann; kein Regimegegner, aber auch nicht Parteimitglied. Im März 1979 ziehen die Jirkowskys aus einem Wohnblock in ein eigenes kleines Häuschen in Spreenhagen; Einzelkind Marienetta hat zwei Zimmer für sich. Die Schule ist nicht so ihr Ding. Sie träumt viel und langweilt sich, wenn es in Staatsbürgerkunde um "historischen Materialismus" geht. Zu ihren Mitschülern hat sie fast keinen Kontakt. Lieber hilft sie in den Ferien im Altersheim im Nachbarort Grünheide. Das macht ihr Spaß, und die alten Leute mögen sie.

Im Herbst 1979 beginnt Marienetta eine Lehre für Textilverarbeitung im Reifenkombinat Fürstenwalde. Dort ist auch ihre Mutter Astrid beschäftigt. Mit der gibt es häufig lautstarken Streit, was der Nachbarschaft nicht verborgen bleibt. Über die Woche wohnt Marienetta im Fürstenwalder Wohnheim des Reifenkombinats und teilte sich ein Zimmer mit ihrer besten Freundin Elke.

Dann lernt sie Peter kennen. Der 24-jährige Lagerarbeiter hat sich gerade von seiner Frau getrennt. Er hat einiges auf dem Kerbholz, trinkt viel, neigt zu Gewalt. Immer wieder kommt Marienetta mit verquollenem Gesicht zur Arbeit, weil Peter sie geschlagen hat. Freundin Elke wird Zeugin, wie Peter sie "wegen Nichtigkeiten" verprügelt.

Drama am Stolperdraht

Freunde und Familie versuchen, Marienetta und ihren Freund auseinanderzubringen. Aber die junge Frau lässt nichts auf Peter kommen. Die Beziehung zwischen Eltern und Tochter dagegen verschlechtert sich von Tag zu Tag. Sofort an ihrem 18. Geburtstag zieht Marienetta im Sommer 1980 bei Peter ein. An seinem Verhalten ändert das nichts. Elke erlebt mit, wie Peter Marienetta einmal in der Öffentlichkeit verprügelt und als Hure beschimpft.

Dann kommt der Tag, an dem sie mit Peter aus der DDR zu fliehen versucht. Politische Gründe hat sie nicht. Sie folgt nur dem Mann, den sie trotz allem liebt. Am Tag, bevor das Paar "rübermacht", wird Peters Scheidung rechtskräftig. Marienetta will raus aus der Enge Spreenhagens, hat es satt, von allen geschnitten zu werden. Ein Neuanfang - das scheint das Motiv ihrer Flucht gewesen zu sein.

In der Nacht zum 22. November 1980 wagen Marienetta und Peter die Flucht über die schwerbewachte deutsch-deutsche Grenze. Mit dabei ist auch ein Bekannter Marienettas, der 19-jährige Falko Vogt. Als Falko und Peter das letzte Hindernis, die meterhohe Betonmauer, so gut wie überwunden haben, stolpert Marienetta im Todesstreifen über einen Alarmdraht. Die DDR-Grenzer eröffnen das Feuer. Aber Falko und Peter schaffen es unversehrt in den Westen. Marienetta bleibt von Kugeln in den Unterbauch getroffen im Todesstreifen liegen. Ein Kübelwagen verfrachtet sie ins Krankenhaus nach Hennigsdorf. Dort stirbt sie.

Nach den Todesschüssen in die Disco

Die beiden jungen Männer tingeln schon am Abend nach der geglückten Flucht durch West-Berliner Discotheken. Peter gabelt dort eine andere Frau auf, mit der er eine Beziehung beginnt. Marienetta ist noch keine 24 Stunden tot.

Für die Stasi ist die Kombination aus geglückter Flucht und Todesschüssen der größte denkbare Unfall. Tatsächlich breiten Peter und Falko all das, worüber die DDR gerne den Mantel des Schweigens gelegt hätte, in der "Bild"-Zeitung aus. Und so setzt das MfS sogleich insgesamt fünf Spitzel auf die Eltern der Toten an. Es sind Nachbarn und Bekannte aus Spreenhagen. Ihr Auftrag: Das Ehepaar Jirkowsky in einem negativen Bild der "verbrecherischen" Tochter zu bestärken.

Dabei tut sich vor allem IM "Ines" hervor, eine Ärztin für Allgemeinmedizin, die seit vielen Jahren für die Stasi schnüffelt und dies bis zum Fall der Mauer weiter tut. "Ines" flüstert den trauernden Eltern ein, Marienetta habe sich seit ihrer Schulzeit "zum leichten Mädchen entwickelt". Mutter Astrid Jirkowsky, die an einer chronischen Krankheit leidet, ist, ergeben die Stasi-Akten, für diese Einflüsterungen der Respektsperson offenbar besonders anfällig.

Dem Vater tut der Schütze leid

Als sich am 12. Dezember 1980 gegen 13.30 Uhr rund 30 handverlesene, mehrfach überprüfte Personen auf dem stark gesicherten Friedhof von Spreenhagen versammeln, um Marienetta zu beerdigen, ist auch "Ines" mit dabei: "Zu einer bösen Überraschung kam es dann an der Grabstelle, da diese vorher durch den Friedhofsarbeiter nicht in Ordnung gebracht wurde", berichtet sie an MfS-Mann Storch. "Durch diese unsaubere Grabstelle wurde der Eindruck erweckt, dass die J. wie ein Hund beerdigt wird."

Aber "Ines" vermeldet auch, dass die Einflüsterungen Wirkung zeigen. Die Eltern hätten bereits begonnen, ihrer Tochter "die Schuld zu geben". Wörtlich heißt es in dem Spitzelbericht zur Haltung von Marienettas Vater : "Der Schütze tat ihm leid, da er sich bestimmt Vorwürfe machen würde."

Marienettas Eltern sind inzwischen beide verstorben. Auch Peter lebt schon lange nicht mehr. Langsam sei es doch an der Zeit, sich mit der Erinnerung an Marienetta ernsthaft auseinanderzusetzen, findet Ivan Vibing. Der Däne erfuhr Anfang 1981 zufällig von Marienettas tragischem Ende. Die Presse in der Bundesrepublik berichtete damals wochenlang über den tödlichen Mauerzwischenfall. Ziemlich genau ein Jahr zuvor hatte der Deutschlektor an der Handelsschule Aalborg das Mädchen zufällig am Bahnhof Fürstenwalde kennengelernt. "Ich erinnere mich nur an ihr Aussehen, und dass sie gern reden wollte", erzählt Vibing. "Ich habe sie gemocht."

Fotos einkassiert

Nach dem Fall der Mauer recherchiert Vibing, um ein Buch über die junge Frau zu schreiben. "Ich hielt es nicht für richtig, Marienetta in aller Zukunft totzuschweigen", erzählt der 54-Jährige. "Ihre Geschichte war ja längst bekannt." Doch als sich Vibing 2009 an die Schwestern von Marienettas Mutter wendet, erhält er eine schroffe Abfuhr. In "unverantwortlicher Weise" werde in der Geschichte ihrer Familie "geschnüffelt", lässt ihn eine der Tanten wissen, sie werde verhindern, dass aus Marienettas Tod "Profit geschlagen" werde.

Die resolute Frau droht dem Dänen mit einer Anzeige wegen "unerlaubten Aktivitäten" und fordert ihn auf, ihr sofort alle Bilder von Marienetta zu übergeben, die Vibing in deren Bekanntenkreis gefunden hatte. Verunsichert geht Vibing darauf ein. Der verhinderte Biograf versteht die Welt nicht mehr: "Es kommt mir vor, als würde sie zum zweiten Mal sterben."

Aber der Fall Marienetta Jirkowsky lässt sich doch nicht so einfach wegdrücken. Im November 2009 beschließt die Stadtverordnetenversammlung von Hohen Neuendorf auf Antrag der SPD-Fraktion, einen Platz nach Marienetta zu benennen. Doch als Marienettas Tanten von dem Beschluss erfahren, wenden sie sich mit einem Brief an das Ordnungsamt von Hohen Neuendorf - und Bürgermeister Klaus-Dieter Hartung, Mitglied der Linkspartei, macht einen Rückzieher: Er will nun, dass die Stadtverordneten ihren eigenen Beschluss A 094/2009 wieder aufheben.

Wabernde Gerüchte

Vor der entscheidenden Sitzung der Stadtverordneten am 25. März geht es hoch her in Hohen Neuendorf. Im Namen der "acht Geschwisterfamilien" hat eine der Tanten einen Leserbrief an die "Märkische Allgemeine Zeitung" geschrieben. "Freiheit bedeutete für uns auch, dass wir uns 30 Jahre nach Marienettas Tod nicht erneut von Politikern vorschreiben lassen, wie wir mit ihrem Tod umzugehen haben", heißt es da. Allein der Wunsch der verstorbenen Eltern, aus ihrer getöteten Tochter keine Heldin zu machen, sei maßgebend. Wie dieser Wunsch zustande kam - darauf gehen Marienettas Tanten nicht ein.

Dafür wabern weiter alte Gerüchte durch Hohen Neuendorf. Ein Abgeordneter der Linkspartei-Fraktion, der sich in seiner Freizeit seit Jahren mit Vergangenheitsbewältigung beschäftigt, tut sich dabei besonders hervor. Eine frühere Nachbarin der Familie Jirkowsky habe ihm "den traurigen Teil der Familiengeschichte" erzählt, sagt der Mann. Akten über den Fall kennt er nach eigener Aussage nicht. Dass Marienetta "ein bisschen problematisch" gewesen sei, weiß er aber, vom Hörensagen.

Und so tobt in Hohen Neuendorf, einem ganz normalen Städtchen in der ehemaligen DDR, der Kampf um die Erinnerung. War Marienetta Jirkowsky eine Schlampe und Rechtsbrecherin, selbst schuld an ihrem Schicksal? Oder ein lebenshungriges 18-jähriges Mädchen, totgeschossen, nur weil sie weg wollte? Können wir sie getrost vergessen - oder sollten wir die Erinnerung an Marienetta als Mahnung wachhalten?

Die Abgeordneten haben das Wort.

Dieser Beitrag wurde zuerst auf Spiegel-Online veröffentlicht.



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