Stefan Appelius


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Pirat im Widerstand

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Pirat im Widerstand
Anti-Nazi-Sender auf hoher See

Von Stefan Appelius

Karlsruhe, an einem Märzabend im Jahre 1938. "Hier spricht der Sender der Deutschen Freiheitspartei" tönt es auf Kurzwelle 38,26 Meter aus dem Volksempfänger. Seit einigen Wochen macht ein Piratensender hinter vorgehaltener Hand von sich reden. Die Gestapo hat nach fieberhafter Suche bereits zahlreiche Abhörgemeinschaften im Badischen ermittelt. Vor der holländischen Küste kreuzt ein unscheinbarer Heringsfischer. 110 rostige Bruttoregistertonnen, die den braunen Machthabern in Deutschland Kopfzerbrechen bereiten: Das 1913 erbaute Schiff birgt ein Geheimnis. Im Januar 1938 hat der Sender der "Deutschen Freiheitspartei" seinen Betrieb an Bord aufgenommen.

Dr. Carl Spiecker ist kein ganz junger Mann mehr. Seine Haare sind schon lange grau, die Nickelbrille wirkt zerbrechlich. Einst war der gläubige Katholik Pressechef von Reichskanzler Marx, später Reichskanzler Brünings "Sonderbeauftragter zur Bekämpfung des Nationalsozialismus". Schon 1933 ist Spiecker nach Frankreich geflohen. Mit anderen konservativen Emigranten hat er die "Deutsche Freiheitspartei" ins Leben gerufen. In Paris reift Spieckers Plan heran, eine Radiostation gegen die Nazis in Betrieb zu nehmen. Da ihm aber kein Staat Europas die Lizenz zum Betrieb eines nach Deutschland gerichteten Senders erteilen will, entsteht die Idee, ein Schiff für seine Zwecke auszurüsten. Die deutsche Bevölkerung soll über die "wahre Natur der NSDAP" aufgeklärt und zum Widerstand gegen Adolf Hitler aufgefordert werden. Es gelingt Spiecker, im englischen Lowestoft einen alten, mit Kohlefeuerung betriebenen Fischkutter anzuheuern. Einflußreiche Torys tragen stillschweigend die notwendigen Kosten.

Mitte Januar 1938 trifft der Journalist Ernst Langendorf (31) in der französischen Hafenstadt Dieppe ein. Der gebürtige Hesse lebt seit fünf Jahren im Exil. Er soll Nachfolger des ersten Redakteurs an Bord des "Faithful Friend" werden. Der hat schon nach einigen Tagen aufgegeben: Die Arbeitsbedingungen auf dem schmutzigen Kutter bei stürmischer See sind unerträglich. An Bord sind neben dem Kapitän noch vier Mann: Heizer, Matrosen und Koch. Alles echte Fischer aus Großbritannien. Mit Langendorf trifft ein Techniker vom holländischen "Radio Hilversum" ein. Trotz stürmischer See läuft das Schiff noch am frühen Nachmittag desselben Tages aus. Die Begeisterung des Deutschen über seine neue Arbeit hält sich in Grenzen: "Schon nach wenigen Stunden war ich von den Brechern, die über Bord schlugen, völlig durchnäßt und durch Seekrankheit außer Gefecht gesetzt. Sterbensübel suchte ich meine kleine Kabine auf."

Der Kutter kreuzt im Ärmelkanal vor der französischen und holländischen Küste. Täglich von 19:30 bis 20 Uhr und von 22 bis 22:30 Uhr geht Ernst Langendorf auf Sendung. Dann folgen Nachrichten, eine internationale Presseschau - und dazwischen immer wieder die Ansage "Hier spricht der Sender der Deutschen Freiheitspartei". Den notwendigen Strom liefert ein kleiner Benzinmotor. Manchmal taucht ein französisches Kriegsschiff auf. Es beschattet die schwimmende Radio-Station und sorgt dafür, dass der "Treue Freund" während der Sendezeit in internationalen Gewässern bleibt. An Land geht die Besatzung des Kutters nur, wenn Proviant und Zeitungen besorgt werden müssen. "Dann telefonierte ich verabredungsmäßig mit Dr. Spiecker in Paris, der mir weitere Tipps und Informationen gab", erinnert sich Langendorf.

Anfang April 1938 läuft der "Treue Freund" in Cherbourg ein. An Bord herrscht Unruhe: Carl Spiecker hat sich angemeldet. Langendorf erfährt, dass infolge politischer Veränderungen in der französischen Volksfrontregierung mit Schwierigkeiten bei der Sendetätigkeit zu rechnen ist. Bisher hatte die Regierung Léon Blum den "Deutschen Freiheitssender" stillschweigend toleriert.

Es bleibt der Besatzung nichts anderes übrig, als einen geeigneten Zufluchtshafen außerhalb Frankreichs zu finden. Die Männer hoffen, dass man ihnen in IJmuiden keine Schwierigkeiten machen wird. In Holland gibt es nämlich keine besonderen Lizenzvorschriften. Doch jetzt fangen die Probleme erst an: "Als wir am frühen Morgen anlegten, wurde das Boot von Zollbeamten und dann von einer Schar Hafenpolizisten gründlich inspiziert und kontrolliert." Gerade noch rechtzeitig hat die Besatzung die Antenne gekappt. Über ihre Mission aber schweigen die Männer.

In der holländischen Hafenstadt brodelt schon die Gerüchteküche: Es könnte ein Vergnügungsdampfer sein. Oder ein Schmuggler? Fast alle niederländischen Zeitungen nehmen sich des geheimnisvollen Schiffs an. Man munkelt, der Kutter stamme aus Marseille: "Das Seltsame an der ganzen Angelegenheit ist die Tatsache, dass dieser alte, zusammengeflickte Fischdampfer einen brandneuen Radiosender besitzt", heißt es im "Telegraaf". Der Kutter steht jetzt unter ständiger Beobachtung neugieriger Journalisten. Ein Sonderberichterstatter des "Telegraaf" notiert: "Von Zeit zu Zeit kommt ein Besatzungsmitglied aus der Kabine, säubert das Deck oder sieht nur zum Hafen hinüber. Danach verschwindet er lautlos."

Der Radiosender wird entdeckt und versiegelt, alle Papiere und Pässe der Mannschaft sorgfältig überprüft: Sie sind in Ordnung. Nur der Deutsche Ernst Langendorf ist den Beamten verdächtig. Er wird aufgefordert, die Polizisten auf die Wache zu begleiten. Aus einem kleinen Aufenthaltsraum hört er, wie der Reviervorsteher mit der deutschen Botschaft telefoniert. Nach ein paar Stunden taucht ein Beamter auf, das NS-Parteiabzeichen trägt er im Knopfloch. Die Männer schauen sich feindselig an: "Er durfte mich besichtigen, richtete aber keine Fragen an mich und verschwand bald wieder."

Jetzt erst vertraut Langendorf sein Geheimnis einem Holländer an. Er zeigt ihm das Bündel Manuskripte, dass er für seine Sendungen verwendet hat: "Es dauerte noch einige Stunden, bis ich wieder ins Büro gerufen wurde, wo mich der Reviervorsteher in ungewöhnlich freundlicher Weise empfing und mir eröffnete, dass man mir alles glaube und ich frei wäre zu gehen." In Holland darf Ernst Langendorf aber nicht bleiben. Er muss das Land innerhalb weniger Tage verlassen. Ostersamstag 1938 trifft er in Paris ein.

Schon nach zwei Tagen lichtet der "Treue Freund" in IJmuiden den Anker. Im französischen Boulogne wird die Sendeanlage entfernt und in einem Lagerhaus untergebracht. Danach macht sich die Besatzung auf den Heimweg nach England. Carl Spiecker aber gibt nicht auf. Es gelingt ihm, in England eine komfortable Motorjacht für seine Zwecke umzurüsten. Langendorf soll Anfang Juni wieder an Bord gehen. Doch das Schiff brennt bei seiner letzten Probefahrt völlig aus. Unfall oder Sabotage? Einen Sender der "Deutschen Freiheitspartei" wird es nicht mehr geben.

Ernst Langendorf landet 1943 als amerikanischer Soldat in Nordafrika. Er ist im Alliierten Hauptquartier für psychologische Kriegführung tätig: Als Nachrichtenredakteur für "Radio Tunis", den Sender der 5. US-Armee. Am 1. Mai 1945 nimmt Langendorf an der Befreiung Münchens teil. An diesem Tag funktioniert das Telefon des "Führers" im "Braunen Haus" noch. Langendorf will es genau wissen. Er wählt eine Nummer und presst mit rollendem "r" heraus: "Hier spricht Adolf Hitler." Am anderen Ende der Leitung war dem Vernehmen nach nur ein erschrecktes Stammeln zu hören.

Carl Spiecker war nach Kriegsende Lizenzträger der "Rhein-Ruhr-Zeitung" in Essen. Als CDU-Minister im Kabinett Arnold hat er das Land Nordrhein-Westfalen im Bundesrat vertreten. Am 16. November 1953 ist Spiecker im Alter von nur 65 Jahren einem Herzleiden erlegen. Ernst Langendorf aber blieb dem Radio treu: Nach Kriegsende wurde er Mitarbeiter von "Radio Free Europe" in München. Er starb am 7. Dezember 1989 in der bayerischen Landeshauptstadt.


Dieser Beitrag wurde am 19. September 1993 im "Tagesspiegel" (Berlin) veröffentlicht.

Faithful Friend, 1938

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