Stefan Appelius


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Gegen den Strom

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Gegen den Strom (1)
Hans Vogel (1881 - 1945)

Von Stefan Appelius

"Ich habe nie einen Menschen getroffen, der mir besser gefiel; er schien mir das wirklich schöne Beispiel des besten Menschentypus der Arbeiterklasse mit all ihrer natürlichen Lie-benswürdigkeit und Höflichkeit, ohne Unterschied der Nation." Das hat der britische Verleger Victor Gollancz, Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, über einen deutschen Politiker gesagt, den man in der Bundesrepublik nie wirklich gekannt hat. Der Nürnberger Hans Vogel war Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, er führte die Partei während des Zweiten Weltkriegs aus dem Exil. Jetzt sind bisher unveröffentlichte Dokumente und Fotos von Hans Vogel aufgetaucht, die ein lebendiges Bild des Mannes zeichnen, der in der Weimarer Republik direkt gegen den selbsternannten "Frankenführer" Julius Streicher kandidierte.

London, im Sommer 1945, wenige Monate nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Der frühere sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete Hans Vogel schreibt einen Brief an seinen Sohn Ernst, der als amerikanischer Soldat im Pazifik stationiert ist. Hans Vogel ist der Vorsitzende des Exilparteivorstands der SPD und möchte so rasch wie möglich nach Deutschland zurückkehren, obwohl die Lage dort vermutlich grauenhaft sei: "Wie aber soll erst der Winter werden, da sowohl Heizung als auch in einem überaus großen Ausmaße die Behausung fehlt." Man müsse über einen gesunden, kräftigen Körper verfügen, wenn man, wie er selbst, in so ein Land zurückkehren wolle. Vogel hat Sehnsucht nach seiner fränkischen Heimat, möchte seine Kinder und vor allem seinen Bruder Michael noch einmal wieder sehen. Seit zwölf Jahren schon lebt er im Exil. Mitte Mai 1933 ist er nach Prag gegangen. Vogel war zeitlebens immer gesund, "bärenstark, trinkfest und sangesfroh". Doch schon seit Mitte August fühlt sich der 64jährige "nicht sehr pässlich". Erst war ihm eine Woche ständig "zum Kotzen", seither leidet er an "Null Appetit". Seinem Sohn Ernst schreibt Vogel: "Ich stehe in ärztlicher Behandlung. Ich möchte fast sagen erfreulicherweise scheint der Arzt dem Fall keine ernste Bedeutung beizumessen." Vogel vermutet, dass seine Beschwerden "nervösen Ursprungs" sein könnten. In letzter Zeit haben sich Journalisten aus aller Welt in Vogels Wohnung an der Fernside Avenue Nummer 3 die Klinke in die Hand gedrückt. Seinem Sohn Ernst schreibt er darüber: "Man ist draußen in der Welt also nicht ganz vergessen. Martin Treu ist Oberbürgermeister in Nürnberg. In seiner Einführungsrede hat er darauf verwiesen, dass bei der letzten großen Wahlkundgebung auf dem historischen Marktplatze im März 33 der Redner, der sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete Vogel der Versammlung zugerufen habe: ‚Wer Hitler wählt, wählt den Krieg.' Glaubst Du nicht, lieber Ernst, dass Dein alter Vater nun gar noch anfängt, etwas eitel zu werden? Na, wenn schon."

Am 6. September 1945 schreibt Hans Vogel einen langen Brief an seinen Parteifreund Otto Grotewohl in Ostberlin. Grotewohl war in der Weimarer Republik Minister im Freistaat Braunschweig, anschließend als Präsident der Braunschweiger Landesversicherungsanstalt für ein paar Jahre Mitglied der SPD-Reichstagsfraktion. Während der NS-Diktatur hatte sich Grotewohl als Kunstmaler, Kleingewerbetreibender und Vertreter durchgeschlagen, der mehr als einmal aus politischen Gründen eingesperrt wurde. Jetzt ist dieser Mann der Vorsitzende des "Zentralausschuss der SPD" in der sowjetischen Besatzungszone. Während die Partei in den Westzonen noch nicht wieder arbeiten darf, ist sie in der Sowjetischen Besatzungszone schon lizenziert worden. Das macht den Wiederaufbau der SPD nicht eben leichter, glaubt Vogel. Er möchte unter allen Umständen verhindern, dass seine Partei durch die Aktivitäten des Zentralausschuss in das Fahrwasser der Kommunisten gerät. "Im Augenblick ist es das Wesentlichste, dass jeder zu seinem Teil versucht, die Sozialdemokratische Partei als eine unabhängige und selbständige politische Organisation aufzubauen und sie zum Sammelpunkt und zum politischen Kampfinstrument für alle Menschen zu machen, die in dem freiheitlichen und demokratischen Sozialismus ihr politisches Ideal sehen", schreibt er dem "lieben Genossen Grotewohl" und betont, dass es auch in den "nichtrussisch besetzten Teilen Deutschlands" zahlreiche Vorbereitungen für den Wiederaufbau der SPD gebe, bei denen sich besonders ihr früherer gemeinsamer Fraktionskollege Kurt Schumacher hervorgetan habe. Der Brief ist eine diplomatische Meisterleistung des stets auf Ausgleich und Verständigung bedachten Vogel: "Es mag sein, dass wir heute in wichtigen politischen und organisatorischen Fragen verschiedene Ansichten haben, aber das ändert nichts an den Gefühlen der Kameradschaft und Freundschaft, mit denen wir uns Euch verbunden wissen." Während Otto Wels und Kurt Schumacher beim Umgang mit den Kommunisten schnell abschalten, hat sich Vogel stets um Dialogbereitschaft bemüht. Er führte während der Emigration in Prag sogar Gespräche mit Abgesandten der KPD, um die Möglichkeiten einer Einheitsfront gegen die Nationalsozialisten auszuloten. Später, in London, war es nicht zuletzt das Verdienst des Franken, dass die scheinbar hoffnungslos zerstrittenen und untereinander verfeindeten Splittergruppen der SPD wieder zueinander fanden. Er ist gegen jede einseitige Bindung des besiegten Deutschlands und denkt schon während der Schlussphase des Krieges über die Errichtung eines Systems kollektiver Sicherheit nach, bei dem auch die Sowjetunion mit einbezogen sein müsse. Zuletzt hat er nur noch den einen Wunsch: Er möchte zurück nach Deutschland, wieder bei "seinen Leuten" sein.

Der Hans aus Franken

Hans Vogel erblickt am 16. Februar 1881 in Oberartelshofen das Licht der Welt, einem Dorf im Pegnitztal, direkt an der erst kürzlich eröffneten Bahnlinie zwischen Nürnberg und Bayreuth gelegen. 1888 zieht die Familie in die nahe gelegene Kreisstadt Fürth um, wo sein älterer Bruder, Michael Vogel, eine Schreinerlehre beginnt. Bereits zwei Jahre später, 1890, stirbt der Vater, Karl Vogel, ein Freigeist, Schumachermeister und Krämer von Beruf, der nach Feierabend die Werke von Karl Marx zu studieren pflegte. Der kleine Hans wächst bei seiner Mutter in bitterer Armut auf. Den Unterhalt der Familie bestreitet der 18-jährige Schreinergeselle Michael, während die beiden zur Familie gehörigen Schwestern Anstellung als Dienstmädchen finden. Auch Hans verdient sich nach der Schule als Kegeljunge ein paar Pfennige, mit denen er selbst ebenfalls zum Lebensunterhalt der Familie beiträgt. Zu seiner Konfirmation (1895) erhält er von den Mitgliedern des Fürther Kegelvereins einen Anzug und eine Uhr. Es ist ein derart schönes Erlebnis in seiner sonst freudlosen Kindheit, das er bis an sein Lebensende nicht vergessen wird.

In die Arbeiterbewegung wird der Jugendliche ganz automatisch durch seinen großen Bruder Michael geführt, der seit der Aufhebung des Sozialistengesetzes (1890) eingeschriebenes Mitglied der wieder erstandenen Sozialdemokratischen Partei ist. Gemeinsam mit seinem Bruder Michael und mit Hans Böckler (9) gründet er in jenen Jahren den Fürther „Arbeiter Turn- und Sportverein“. Sein Traum, Lehrer zu werden, lässt sich aus finanziellen Gründen nicht verwirklichen. Stattdessen beginnt Hans Vogel eine Lehre als Holzbildhauer (1894–1897). Bereits am ersten Tage seiner Ausbildung schließt er sich der Gewerkschaft an. Inzwischen macht sich eine politische Aufbruchstimmung in den Werkstätten und Fabriken im nördlichen Franken bemerkbar.

Die Ideen der Sozialdemokratie dringen wie ein frischer Windstoß in die muffige Atmosphäre des vom Kaiser regierten Obrigkeitsstaates ein, um es mit Wenzel Jaksch zu formulieren. Als Hans Vogel nach der Ableistung des Militärdienstes, seiner Gesellenprüfung und der anschließenden Wanderschaft wieder nach Fürth zurückkehrt, dauert es nicht lange, bis man ihn in den Vorstand seiner Gewerkschaft holt.

Auch privat fügt sich sein Leben: Am 27. März 1904 heiratet er die gebürtige Fürtherin Christine („Dina“) Liebel (1880–1966), die er bei einem Gartenfest des Arbeiterturnvereins kennen gelernt hat und mit der er im Laufe der Jahre drei Kinder zeugt: Frieda, die bereits Anfang August 1904 in Fürth das Licht der Welt erblickt, Willi (*1910) und der Nachzügler Ernst (*1921). Die junge Familie lebt im zweiten Stockwerk eines Mehrfamilienhauses in Fürth. Auch Hans Vogels Mutter ist mit in die moderne Wohnung eingezogen.

Anfang Juni 1908 übernimmt Hans Vogel das Amt eines Bezirkssekretärs der Nordbayerischen SPD im benachbarten Nürnberg. Von nun an geht es mit seiner Karriere rasch voran: 1912 wird Hans Vogel – der, ganz Kind seiner Zeit, einen Zwirbelbart trägt – als Abgeordneter des Wahlkreises Mittelfranken in den Bayerischen Landtag gewählt. Bereits zwei Jahre später, 1914, schickt man den jungen Abgeordneten als Soldat in den Ersten Weltkrieg, an die Westfront.

Viele Zeugnisse gibt es aus diesen Jahren nicht. Sicher ist allerdings: Vogels Begeisterung für den Krieg hält sich in Grenzen.

Als die Monarchie im Herbst 1918 untergeht, wählt man den jungen Familienvater in den Nürnberger Arbeiter- und Soldatenrat. Wenig später erhält er ein Mandat für die Nationalversammlung in Weimar. In den darauf folgenden dreizehn Jahren entwickelt sich der Franke schließlich zu einem der einflussreichsten Mitglieder der SPD-Reichstagsfraktion in Berlin.

Mehr als einmal wird er als potentielles Regierungsmitglied gehandelt und hinter vorgehaltener Hand als künftiger Reichswehrminister bezeichnet. In dieser Phase wird die Reichshauptstadt mehr und mehr zu seinem Lebensmittelpunkt. Im September 1927 holt Vogel seine Frau und die drei Kinder aus Fürth nach Berlin. Sie beziehen ein eigenes Häuschen am Stadtrand, in Treptow-Köpenick, unweit der Spree.

Das Häuschen wird für Vogel in den kommenden sechs Jahren in gewisser Weise eine Art Insel in zunehmend stürmischer See. Dieses Bild drängt sich förmlich auf, liest man in den Erinnerungen von Willi Vogel: „Zum Jahresende stand die ‚Neunte’ in der Volksbühne auf dem Familienprogramm. Nachher Punsch und Nürnberger Lebkuchen im Hause Hirschgarten. Und der Christbaum mit den flackernden Kerzen. Mit den Grundstücksnachbarn bestand kein Verhältnis. Kein Wunder! Bei Staatsfeiertagen zogen wir auf dem Dachfirst an hoher Stange die Reichsflagge auf und bei Wahlen zum Reichstag, alle Wähler mussten in der Turmallee [...] an unserem Haus vorbei gehen, dazu die Rote Fahne mit den drei Pfeilen der Eisernen Front. Das Wahllokal, ein Turmrestaurant an der Spree, lag nur 100 Meter entfernt unseres Hauses. Unsere Nachbarn waren meistens Deutschnationale, die sachte höhnten, wenn Vater barfuss [sic] den Garten mit dem Wasserschlauch begoss. Bei Vater war wohl dabei der Bauernsohn wieder freudig erwacht.“ (10)

Innerhalb der fränkischen SPD erfreut sich Hans Vogel der Protektion von Adolf Braun (11) dem langjährigen Chefredakteur der in Nürnberg erscheinenden „Fränkischen Tagespost“. Als Braun auf dem Kieler Parteitag 1927 aus Altersgründen aus der Parteiführung ausscheidet, übernimmt Hans Vogel seine Position. Die Besetzung einer solchen innerparteilichen Führungsposition hat verschiedenen Anforderungen gerecht zu werden.
Zum einen gilt es, den regionalen Proporz zu garantieren. Andererseits war der promovierte Braun ein Intellektueller, der angemessen zersetzt werden muss. In der SPD-Reichstagsfraktion erhebt sich der Ruf, die vakante Position ebenfalls mit einem Akademiker zu besetzen. Doch Otto Wels besteht auf den „Hans aus Franken“, für den er angeblich eine besondere Sympathie hegt. Vogel selbst ahnt nicht, dass er in die Führungsspitze der Sozialdemokratie aufsteigen soll, als er Ende Mai 1927 in die Fördestadt anreist. Und zwar mit einem bemerkenswerten Wahlergebnis: Während Otto Wels und dem späteren Reichskanzler Hermann Müller-Franken in Kiel der innerparteiliche Gegenwind ins Gesicht bläst, erzielt Hans Vogel mit 371 von 378 Stimmen das mit Abstand beste Ergebnis (98,1 Prozent), das auf dem Parteitag überhaupt erzielt wird. Vier Jahre später, auf dem Leipziger Parteitag im Frühjahr 1931, übernimmt Vogel nach dem Tod des früheren Reichskanzlers Hermann Müller das Amt des 2. Vorsitzenden der SPD.
Sein gutes Wahlergebnis kann er allerdings nicht bestätigen, die Linke rückt von ihm ab. Vogel erhält nur noch 318 von 387 Stimmen (82,1 Prozent).

In der Schlussphase der Weimarer Republik muss Vogel eine Reihe von Wahlniederlagen verkraften. Sein wichtigster politischer Gegenspieler ist der braune Volksschullehrer Julius Streicher, ein sogar von eigenen Parteigenossen als „irrsinnig“ beschriebener Fanatiker und Günstling Adolf Hitlers. Streicher gibt in Nürnberg seit mehreren Jahren die vulgär-antisemitische Wochenzeitung „Der Stürmer“ heraus. Schon seit der Reichstagswahl im Sommer 1928 sind die Resultate der SPD im Wahlkreis Franken kontinuierlich von 28,5 auf 19,4 Prozent (1933) zurückgegangen. Die Partei verliert von Wahl zu Wahl an Anhängern.

Während die NSDAP drastische Zugewinne verbucht, rangieren die Sozialdemokraten in Franken schließlich nur noch auf dem dritten Platz, weit hinter der NSDAP (1933: 45,7 Prozent) und letztlich auch hinter der Bayerischen Volkspartei (BVP). Hans Vogel führt die Auseinandersetzung mit den Nationalsozialisten in vorderster Linie.
Er kommt überall in Deutschland im Wahlkampf zum Einsatz und bietet in seinem Wahlkreis dem selbsternannten „Frankenführer“ Streicher die Stirn. Doch auch Vogel vermag die Entwicklung nicht aufzuhalten. Nach dem Reichstagsbrand und der tapferen Ablehnung des Ermächtigungsgesetzes tritt Vogel öffentlich nicht mehr in Erscheinung, da ihm die Verhaftung droht. Auf der Reichskonferenz der SPD Ende April 1933 in Berlin als 2. Vorsitzender im Amt bestätigt, hat sich längst entschieden, dass Vogel nicht in Deutschland bleiben kann. Die Nationalsozialisten haben bereits mehrere SPD-Reichstagabgeordnete widerrechtlich inhaftiert. Sein älterer Bruder Michael, Direktor der Erlanger Ortskrankenkasse, wurde bereits in das Konzentrationslager Dachau verschleppt.

Und so entscheidet der Parteivorstand bereits auf sei-ner ersten Sitzung, Anfang Mai 1933, einige seiner Mitglieder – darunter Otto Wels und Hans Vogel – ins Ausland zu schicken. In Deutschland bleiben kann er nicht, das weiß Hans Vogel, trotzdem ist es eine sehr schwere Entscheidung für den bodenständigen Mann. Nur fünf Tage später verkündet die Reichsregierung die Beschlagnahme des Vermögens der SPD.
Hans Vogel ist inzwischen im Saargebiet eingetroffen, das seit 1920 unter französischer Verwaltung steht. Hier ist er vor einem Zugriff der Nationalsozialisten vorläufig sicher. Inzwischen bereitet sich Dina Vogel in Köpenick auf ihre Abreise vor. Sie soll mit ihrem Mann bis auf weiteres in Prag leben und hat nur wenig Zeit, die Papiere in dessen Arbeitszimmer zu sichten. Noch hofft man, dass der „braune Spuk“ schon bald vorbei sein werde. Als sie ihre Tasche gepackt hat, reist sie mit der Eisenbahn in die Tschechoslowakei. Vierzehn Tage später werden auch Hans Vogel und Friedrich Stampfer, der Chefredakteur des „Vorwärts“, von einem jungen Parteiangestellten namens Fritz Heine über die „grüne Grenze“ im Riesengebirge in die Tschechoslowakei geschmuggelt. Am Vortag noch hatte Vogel versucht, die übrigen Mitglieder der SPD-Reichstagsfraktion davon zu überzeugen, gegenüber den neuen Machthabern keinerlei Zugeständnisse einzugehen. Vogels – inzwischen erwachsene – Kinder sind mit ihrem halbwüchsigen Bruder Ernst vorläufig in Berlin geblieben.

Frieda Vogel: Machtergreifung in Berlin

Frieda Vogel war die einzige Tochter von Hans Vogel. Sie wurde 1919 Mitglied der Sozialistischen Arbeiterjugend und leitete in den folgenden Jahren eine Mädchengruppe der Fürther Kinderfreunde. 1923 legte sie ihr Abitur in Fürth ab. In ihren Erinnerungen schreibt sie: „Ich glaube, ich war ein besonders braves Kind, sehr fleißig und gewissenhaft. Ich saß immer hinter den Büchern, las viel und mein Zeugnis sollte immer eines der Besten sein, denn ich wusste, dass ich Vater damit eine besondere Freude machte.“ 1925 bis 1931 studierte Frieda Vogel in Hamburg, Würzburg, Berlin und Gießen Psychologie, Philosophie und Volkswirtschaft, schloss 1931 mit der Promotion in Psychologie ab. Inzwischen machten sich die Auswirkungen der Weltwirt-schaftskrise bemerkbar. Frieda Vogel besuchte für ein Jahr die Wohlfahrtsschule der Arbeiterwohlfahrt in Berlin, schließt als Wohlfahrtspflegerin ab. Im Herbst 1932 wurde Frieda Vogel als Eignungsprüferin beim Berliner Arbeitsamt eingestellt. Bereits während der Emigration brachte sie ihre Erinnerungen über die Besetzung des Hauses der Familie Vogel in Berlin-Köpenick zu Papier, die im Folgenden erstmals veröffentlicht werden.

„Am Mittwoch, dem 21. Juni 1933 fand die Haussuchung und Besetzung unseres Hauses Berlin-Hirschgarten, Turmallee 1,12 durch die SA, Abteilung Hirschgarten, statt. Die Haussuchung nahmen cirka 20 bis 30 SA-Leute vor. Als ich nach Geschäftsschluss gegen 17 Uhr nach Hause ging, kreuzte den ‚Weg zur Quelle’ ein SA-Auto, mit cirka sechs Mann Besatzung. Ich bemerkte, dass unser Gartentor offen stand und mehrere SA-Leute davor standen. Da ich eine Begegnung mit ihnen vermeiden wollte, schwenkte ich in den ‚Weg zur Quelle’ ein. Kaum war ich eingebogen, so hörte ich hinter mir lautes Rufen. Ich ahnte, dass es SA-Leute waren, kümmerte mich aber nicht darum. Gleich darauf hatten mich zwei SA-Männer eingeholt, fragten mich, ob ich Fräulein Vogel sei, und forderten mich auf, sie in unser Haus zu begleiten.

Man führte mich in das Arbeitszimmer meines Vaters, in dem bereits cirka acht Mann mit dem Durchkramen des Schreibtisches, des Bücherschrankes beschäftigt waren. Die übrigen SA-Leute waren im ganzen Haus verstreut und durchwühlten alles vom Keller bis zum Boden. Ich stellte mich sofort energisch als Dr. Vogel vor. Als einer der SA-Leute mir erklärte, dass sie beauftragt seien, eine Haussuchung vorzunehmen, erwiderte ich sehr bestimmt, dass mir bekannt sei, dass Hausdurchsuchungen nur im Beisein der ordentlichen Polizei durchgeführt werden dürften und dass ich aus diesem Grunde polizeilichen Schutz verlangte.

Ich erklärte, dass ich jetzt die Polizei verständigen würde. Man antwortete mir, dass die SA von heute ab Staatspolizei sei und damit die Heranziehung der ordentlichen Polizei bei Haussuchungen hinfällig werde. Ich erklärte, mich auf jeden Fall bei der Polizei erkundigen zu wollen. Ich trat zum Telefon und war gerade mit dem Suchen der Telefonnummer beschäftigt, als ein SA-Mann das Telefon abnahm und erklärte, er wolle selbst die Polizei verständigen, damit sie die gleiche Auskunft geben könne wie er selbst. Er wählte eine Nummer und rief dann in das Telefon hinein: ‚Wir führen hier im Hause Hirschgarten, Turmallee 1, eine Haussuchung durch. Die Dame verlangt polizeilichen Schutz, obgleich wir sie unterrichtet haben, dass wir polizeiliche Vollmachten besitzen, klären Sie die Dame auf.’ Dann bestätigte eine Männerstimme, in der ich später bei meiner Verhaftung die Stimme eines der vernehmenden SA-Leute in der Inspektionskaserne der SA in Friedrichshagen zu erkennen glaubte, dass die SA seit heute Staatspolizei sei, dass sie berechtigt sei, Haussuchungen alleine durchzuführen, dass die Zeiten schlimmer geworden seien und dass ich mich einer Haussuchung fügen müsste. Während ich telefonierte, durchsuchte ein junger SA-Mann meinen Mantel, meine Aktentasche und meine Handtasche. Er hatte aus meiner Handtasche nach Beendigung des Gespräches bereits ein Päckchen von Zetteln herausgelegt und begann sie zu durchblättern. Da fiel mein Blick auf einen Brief meiner Mutter aus Prag, den sie mir vor cirka vier bis sechs Wochen geschrieben hatte und in dem sie mir den Auftrag erteilte, ihr einige Sachen zu schicken. Ich hatte den Brief nicht gleich bei Empfang vernichtet, weil ich erst den Auftrag ausführen wollte, und steckte ihn in die Seitentasche meiner Handtasche. In den folgenden Wochen vergaß ich die Existenz dieses Briefes in meiner Handtasche vollständig. Dieser Brief aber konnte als Beweismittel unserer Verbindung mit Prag gelten und da ich dies verhindern wollte, ergriff ich, einem ersten Impuls folgend, den Brief und versuchte ihn zu zerreißen. Sofort umringten mich mehrere SA-Männer, hielten mir die Hände fest und entrissen die Fetzen des Briefes meinen Fäusten, nachdem sie mir den Kopf so heftig nach hinten gebogen hatten, dass ich kaum mehr Luft bekam. Ein SA-Mann musste sofort den zerrissenen Brief wegbringen.

Dann forderte man von mir energisch Rechenschaft, weshalb ich diesen Brief vernichten wollte. Ich antwortete, es sei ein persönlicher Brief meiner Mutter gewesen, der niemand etwas anginge. Der junge SA-Mann, Weihe war sein Name, entgegnete hämisch, ‚auf einmal fangen die Bonzen an feinfühlig zu werden, bei uns waren Sie es nicht.’

Dann forderte man von mir den Schlüssel zur Schreibmaschine. Als Weihe mit dem Durchsuchen meiner Handtasche fertig war, forderte er mich in herrischem Ton auf, ihn zu begleiten in die oberen Räume, die er zu durchsuchen beabsichtige. Ich lehnte ab und verlangte den SA-Führer der Gruppe zu sprechen. Er stellte sich mir vor und ich erklärte ihm, dass ich nur in seiner Gegenwart in die oberen Räume gehen würde. Der Sturmführer Scholz winkte Weihe ab, der sich grollend und wütend zurückzog. Drei SA-Leute forderte er auf, ihn und mich nach oben zu begleiten. Weihe schlenderte hinterdrein. In meinem Beisein wurde mein Arbeitszimmer und das Zimmer meines Bruders durchsucht. Zur gleichen Zeit durchsuchten die anderen SA-Leute das Schlafzimmer meiner Eltern, mein Schlafzimmer, den Keller und Boden. In jedem Zimmer nahmen drei bis vier SA-Leute die Durchsuchung vor. Sie stiegen auf die Leiter um die Öfen, die Lüster und Fensterrahmen zu untersuchen. Im Keller wurden die Kohlen durchwühlt, alle Kisten umgeworfen, aus den Betten wurden alle Matratzen genommen und eine gründliche Durchsuchung vorgenommen.

Als ich meinen Schreibtisch öffnen musste, erklärte ich, dass darin keinerlei politisches Material eingeschlossen sei, dass es sich nur um meine persönlichen Dinge, Briefe, Andenken, Notizen usw. handele. Ich bat darum, dass nicht vier Mann gleichzeitig in meinen Briefen wühlen möchten, die doch nur mich persönlich angingen. Scholz, der sich während der ganzen Haussuchung sehr höflich mir gegenüber verhielt, forderte die SA-Leute auf, zur Seite zu treten, da er, persönlich von Weihe unterstützt, meinen Schreibtisch durchsuchen wollte. Ich hatte während der ganzen Untersuchung den Eindruck, dass Scholz zwar die herrische und herausfordernde Art, mit der Weihe sein Mütchen an mir zu kühlen versuchte, nicht billigte, aber nicht dagegen einschreiten konnte, einesteils wohl um Vorwürfen einer zu milden Behandlung der ‚Marxisten’ zu begegnen, andernteils, denke ich, wollte er Weihe, seinem Adjutanten, aus psychologischen Gründen bei dieser Haussuchung Gelegenheit geben, seinen gegen die ‚Marxisten’ aufgespeicherten Hass und seine Rachegefühle abzureagieren. Weihe war nämlich, wie ich später aus einem persönlichen Gespräch mit ihm erfuhr, ein Märtyrer des Nationalsozialismus. Er hatte, da er Nationalsozialist gewesen war, seine Stellung als Beamter verloren, musste aus Deutschland flüchten und sich mehrere Jahre im Ausland durchschlagen. Endlich war nun die Gelegenheit gekommen, sich für die erlittenen Entbehrungen zu rächen!

Er versuchte es immer wieder, mich durch höhnische Bemerkungen über die ‚Bonzen’ und das ‚System’ zu kränken und einzuschüchtern, was ihm aber nicht gelang, da ich mich energisch gegen seine Anfeindungen wehrte. Darüber wurde er sehr zornig und schrie: ‚Die Frau macht uns verrückt, sie kommandiert uns hier, schafft sie aufs Auto, ins Konzentrationslager mit ihr!’

Auch Lina, unsere Hausangestellte, eine gläubige Katholikin, ließ es bei der Haussuchung nicht an drastischen Bemerkungen gegen die Nazi fehlen. Als sie mein Zimmer durchwühlten, stand sie dabei und meinte laut spöttisch lachend: ‚Gelt, da staunt ihr, was hier für gescheite Leute wohnen, das habt ihr euch halt nicht eingebildet, die Bücher und Schriften versteht ihr doch gar nicht’ und dergleichen mehr.

Als mein Zimmer durchsucht war, gingen wir in das Zimmer meines Bruders. Der Schreibtisch war im obersten Fach verschlossen, man forderte von mir den Schlüssel. Meinen Worten, dass ich ihn nicht besitze, schenkte man keinen Glauben. Man machte mich darauf aufmerksam, dass man, falls ich den Schlüssel nicht freiwillig herausgeben wolle, den Schreibtisch aufbrechen würde. Ich erklärte nochmals, den Schlüssel nicht zu besitzen. Darauf rief man einen SA-Mann, der einen Bund mit cirka 30 Schlüsseln brachte, die alle der Reihe nach ausprobiert wurden. Als keiner passte, bedauerte man, den Schreibtisch aufbrechen zu müssen. Inzwischen hatten sich acht bis zehn Mann im Zimmer eingefunden.

Alle erwarteten gespannt das gewaltsame Öffnen des Schreibtisches, denn in ihm hoffte man endlich das gefährliche Material zu finden, das man im ganzen Haus bis jetzt vergeblich gesucht hatte, trotz allen Wühlens und Herumstöberns im kleinsten Winkel.

Feierliche Stille herrschte im Zimmer. Als das Schloss dem Stemmeisen nachgab, bogen sich alle Köpfe über die Schublade – aber es gähnte ihnen ein Nichts entgegen. Nur sehr schwer konnten die SA-Leute ihre Enttäuschung verbergen.

Als Scholz in einer Schublade mehrere leere Auslandskuverte vorfand, stutzte er und meinte: ‚Aha, wo sind die Briefe?’ Dann meinte er: ‚Es ist möglich, dass Ihr Bruder Briefmarken sammelt und daher die leeren Kuverten aufbewahrt.’ Ein SA-Mann hatte im Bett meines Bruders ein Aktenstück mit Belegen über die Steuerzahlungen meines Vaters an das Finanzamt und einer Gehaltsaufstellung gefunden. Auch das hatten wir vergessen, dass wir es dort einmal hineingelegt hatten. Diese Aufstellung gab wieder reichlich Gelegenheit, hämisch zu werden. Auch Scholz, der sonst sehr zurückhaltend war, machte pflichtschuldigst eine Bemerkung über ‚Bonzengehälter’, aber ich trat ihm entgegen und verbot mir irgendwelche Verächtlichmachung mei-nes Vaters, über den sie, da sie ihn nicht kannten, sich kein Urteil anmaßen konnten. Daraufhin lenkte Scholz ein mit den Worten: ‚Also Schluss jetzt.’

Zwei SA-Männer, die den Bücherschrank meines Bruders13) durchsuchten, brachten Scholz verschiedene Bücher zur Entscheidung, von denen sie nicht wussten, ob sie wegen ‚Staatsgefährlichkeit’ eingezogen werden sollten. Übrigens, meinen Bücherschrank durchsuchte man nur flüchtig, da Scholz nach einem kurzen Blick erklärte, es befände sich nur Unterhaltungsliteratur, keine politische Literatur darin. Aber Weihe suchte weiter und als er die ‚Rote Kinderrepublik’ fand, zeigte er sie triumphierend herum mit den Worten: ‚So sieht die Unpolitische aus.’ Bei den Bü-chern entschied Scholz meist nicht im Sinne Weihes, der sie alle verbrennen wollte.

Ein SA-Mann hatte Patronenhülsen im Nachttisch meines Vaters gefunden und wollte nun unbedingt die dazugehörigen Revolver von mir gezeigt bekommen. Ich konnte ihm nur erklären, dass ich nichts von dem Vorhandensein der Waffen wüsste, es sei mir nur bekannt, dass Vater einmal einen Waffenschein besessen habe.

Nach cirka zwei Stunden war die Haussuchung beendet. Man schleppte Kisten konfiszierter Bücher und Zeitschriften fort, Aktenstücke, bekritzelte Blätter, in denen man eine Geheimschrift vermutete, alte Parteibücher. Das Haus sah schrecklich aus, nachdem die SA abgezogen war. Alles durchwühlt, in Unordnung und Auflösung.

Wir schickten sofort Ernst14) zum Hirschgartner Bahnhof, damit er Willi15) abfangen sollte, der noch kurz vor der Haussuchung zu Haus angerufen hatte und mitgeteilt hatte, dass er später als erwartet nach Hause kommen würde. Kaum war Ernst aus dem Hause, als zwei SA-Männer erschienen, sich vor der Haustüre postierten und erklärten, niemand dürfe das Haus verlassen. Als ich eine Erklärung verlangte, antwortete man unter Achselzucken: ‚Befehl ist Befehl.’ Gleich darauf erschien Weihe und erklärte mich für verhaftet. Er forderte mich auf, mich zurecht zu machen. Ich verlangte ein paar Minuten Zeit, ging hinauf in mein Zimmer, sperrte Schreibtisch und Bücherschrank ab. Als ich herunterkam, drängte Weihe zum Aufbruch. Ich verlangte noch Zeit, um einen Teller Suppe essen zu können, ‚da dies doch keine politische Betätigung sei’. Weihe kochte vor Wut, ließ mich aber noch niedersetzen, während er mit zwei SA-Leuten vor der Küchentüre Wache stand, in drohender Haltung. Als ich mit dem Essen fertig war, wollte ich mir Hände und Gesicht waschen. Das aber war für Weihe zuviel. Er schrie: ‚Diese Frau macht uns verrückt, keine Umstände mehr mit ihr, bringt sie zum Auto.’ Die SA zerrte mich zur Küche hinaus, über den Korridor, durch den Garten und sie stießen mich in ein Auto. Ein kleines gelbes Zweisitzer-Auto. In dem Augenblick, als ich neben dem Chauffeur, einem SA-Mann, saß, sprang Weihe hinten auf und schrie: ‚Keine Unterhaltung mit dieser Frau.’ Der Chauffeur hatte mich kurz zuvor gefragt, ob mein Bruder heute morgen noch zuhause gewesen sei. Ich beantwortete wahrheitsgemäß die Frage mit ‚Ja’.


Das Auto fuhr die Turmallee längs bis zum Restaurant Aussichtsturm, einem wochentags schlecht besuchten Lokal an der Spree gelegen, seit Jahren bei Wahlen für die Einwohner Hirschgartens amtliche Wahlstelle. Seit 1933 Verkehrs- und Versammlungslokal der NSDAP. Vor dem Restaurant Aussichtsturm hatte sich eine Menge Menschen angesammelt, die das Schauspiel unserer Hausbesetzung und meiner Verhaftung genossen.

Ich saß in dem Wagen, schaute nicht rechts noch links, nur geradeaus mit dem stolzesten Gesicht. Ich glaubte, man würde mich im Restaurant vernehmen. Das geschah nicht. Man wendete das Auto und fuhr Richtung Friedrichshagen. Der Chauffeur flüsterte mir zu: ‚Es geschieht Ihnen nichts, haben Sie keine Angst.’ Ich entgegnete ihm ironisch: ‚Sie fahren doch direkt ins Konzentrationslager.’ Das bestritt er und meinte: ‚Wir fahren zur Inspektion Friedrichshagen zur Vernehmung.’ Tatsächlich brachte man mich in die SA-Inspektion Friedrichshagen, die im Erdgeschoss des Rathauses untergebracht war. In dem Vorraum musste ich mich auf eine Bank setzen, während zwei SA-Männer Wache hielten. Aus dem Inspektionszimmer hörte ich lautes Disputieren. Nach cirka einer halben Stunde erschien ein SA-Mann, der einer der Wachen etwas zuflüsterte, worauf ich in die Küche geführt wurde. Ich hörte, wie draußen jemand vorbei zum Inspektionszimmer geführt wurde. Gleich darauf wurde ich wieder aus der Küche herausgeführt und musste mich wieder niedersetzen. Nach cirka zehn Minuten forderte mich ein SA-Mann auf, in das Inspektionszimmer zu kommen. Drinnen saß zur Vernehmung der Häusermakler Walther Beck, neben ihm der Inspektionsführer und um diesen herum cirka acht bis zehn SA-Leute. Der eine von ihnen, der mit dem brutalsten Gesicht, wippte die Reitpeitsche auf seinen Knien. Beck hatten wir vor cirka zwei Monaten den Auftrag gegeben, das Haus zu verkaufen, hatten aber nach der Beschlagnahme des sozialdemokratischen Vermögens unseren Auftrag zurückgezogen.

Der Inspektionsführer fragte mich: ‚Kennen Sie diesen Herrn?’

‚Jawohl, es ist Herr Beck.’

‚Dieser Herr behauptet, er habe den Auftrag gehabt, ihr Haus zu verkaufen. Heute Morgen habe aber ihre Mutter angerufen und den Auftrag zurückgezogen. Stimmt das?’

Ich sagte, das könnte ich nicht wissen. Mir sei nur bekannt, dass wir, nachdem das sozialdemokratische Vermögen beschlagnahmt worden war, die Absicht hatten, den Auftrag zurückzuziehen, da wir die Schritte des Staatskommissars abwarten wollten. Mutter war schon sechs Wo-chen von zu Hause fort, der Auftrag war schon längst zu-rückgezogen worden.

Nachdem ich meine Aussagen gemacht hatte, ließ man Beck frei. Ich musste wieder in den Vorraum hinaus. Nach einiger Zeit rief man mich wieder hinein, bot mir einen Stuhl neben dem Inspektionsführer an, verlangte meinen Namen, Alter, meinen Beruf, wollte genau wissen, wo ich beschäftigt sei. Als ich meinen Beruf nannte, pfiff der Inspektionsführer durch die Zähne. Er hatte vor sich den zerrissenen, das heißt, wieder zusammengesetzten Brief meiner Mutter liegen und fragte: ‚Ich habe hier einen Brief Ihres Vaters, nicht wahr?’

‚Nein, der Brief ist von meiner Mutter, mein Vater hat nur unterschrieben.’

‚Ihre Mutter sieht die Dinge ja sehr optimistisch, sie verlangt von Ihnen verschiedene Sachen. Haben Sie die geschickt?’

‚Nein, bitte überzeugen Sie sich selbst in der Wohnung.’

‚Das interessiert mich jetzt nicht. Von wem haben sie den Brief bekommen?’

Der Inhalt des Briefes war mir nicht mehr gegenwärtig. Ich hatte ihn seit Wochen nicht mehr durchgelesen und mich auch während des Wartens im Vorraum in Gedanken nicht mit dem Brief beschäftigt. Am Ende des Briefes hatte Vater geschrieben: ‚Warum das nicht geht, wird dir der Überbringer sagen. Wo bleibt Ernst? Hat Otto meinen Auftrag ausgerichtet?’

Ich antwortete, da der Schluss des Briefes (Bemerkung vom Überbringer) in diesem Augenblick mir nicht bewusst war: ‚Ich war nicht zuhause, als er ankam.’

Der Inspektionsführer: ‚Hier steht etwas vom Überbringer des Briefes. Wer war das?’

Jetzt hätte ich Lina nennen müssen. Das aber war unmöglich, da sie keine Ahnung von dem Brief hatte. Ich verbesserte mich und sagte: ‚Ich hab ihn wohl bekommen, aber ich kannte den Betreffenden nicht.’

Da rief der Chauffeur dazwischen: ‚Jetzt lügen Sie, Sie können nämlich nicht lügen, bis jetzt haben Sie auch die Wahrheit gesagt, wer war also der Überbringer?’

Ich behauptete nochmals, den Mann nicht zu kennen. Da meinte der Inspektionsführer: ‚Sicher hat sich der Mann auch vorgestellt, denn in Ihren Kreisen ist es doch Sitte, dass man sich vorstellt.’

Ich sagte ihm, der Name des Mannes hätte mich nicht interessiert, mir sei die Hauptsache der Brief gewesen: ‚Vielleicht wollte der Betreffende nicht, dass ich seinen Namen erfuhr.’

‚Sicher ist Ihnen der Name entfallen. Da Sie aber doch sonst nicht unintelligent sind, wird Ihnen der Name sicher wieder einfallen.’

Dann ging er auf ein anderes Thema über: ‚Also, wer ist Ernst?’

‚Mein Bruder.’

‚Also Ernst sollte auch zu ihren Eltern. Ihre Mutter schreibt ja: Für Ernst haben wir auch schon eine Schlafgelegenheit.’

‚Ich wollte Ernst nicht weggeben. Er sollte bei mir bleiben.’

‚Wer ist der Otto, der in dem Brief erwähnt ist?’

‚Ein Vetter von mir, dem mein Vater einen Auftrag gegeben hatte.’

‚Das Haus haben wir beschlagnahmt. Jetzt werden ordentliche Leute hineinkommen, keine Bonzen. Wie haben Sie sich denn das gedacht mit dem Haus, darauf ruht doch eine Hypothek aus sozialdemokratischem Vermögen.’

‚Gesetzlich liegt meines Wissens die Sache so, dass mein Vater nach wie vor der Eigentümer des Hauses bleibt, dass nur derjenige, der die Hypotheken gab, jetzt nicht mehr die SPD ist, sondern der Staat. Wir haben also jetzt die Zinsen nicht mehr der Partei zu zahlen, sondern dem Staat. Die Zinsen werden wir durch Vermieten aufbringen.’

Der Inspektionsführer heftig: ‚Sie irren sich, wir sind jetzt die Eigentümer, denn das SPD-Vermögen gehört jetzt dem Staat. Sie müssen sich bald nach einer anderen Wohnung umsehen, sonst liegen Sie eines Tages auf der Straße. Wissen Sie Bescheid, wie groß die Hypothek ist?’

Ich verneinte. Der Inspektionsführer: ‚Wo ist ihr Bruder?’

‚Ich weiß es nicht.’

‚War er heute Morgen noch zu Hause?’

‚Ich habe nicht nachgesehen. Ich ging zeitig ins Amt.’

‚Zu dumm, dass Ihr Bruder nicht da ist. Er könnte uns doch aufklären über die Vermögensverhältnisse und uns manche Arbeit ersparen.’

Dann der Inspektionsführer: ‚Ein schönes Gehalt hat Ihr Vater gehabt. War eben ein Bonze.’

‚Mein Vater war kein Bonze. Er hat selbstlos für seine Idee gekämpft. Für sich beanspruchte er nichts. Was er verdiente, kam seiner Familie zugute, der er ein schönes Heim bot. Seinen Kindern gab er eine gründliche und gute Erziehung.’

‚Das ist ja sehr schön, was Ihr Vater als Familienvater getan hat. Das will ich auch anerkennen. Aber politisch ist er mein schärfster Gegner. Wie hieß der Mann, der Ihnen den Brief brachte?’

‚Ich kenne ihn nicht.’

Da wandte sich der Inspektionsführer an die übrigen versammelten zehn SA-Leute mit der Frage: ‚Ja, was wollen wir da machen?’

Dann stellten sie allerlei Fragen an mich. Der mit der Reitpeitsche meinte: ‚Wir haben ja Konzentrationslager. Wir werden Sie dorthin bringen. Dort wird Ihnen der Name schon wieder einfallen.’

‚Sie können mich dorthin bringen, aber es kann mir dort nichts einfallen, weil ich seinen Namen nicht weiß. Es ist aber besser, Sie lassen mich an meine Arbeit zurück, damit ich für meinen Bruder sorgen kann.’

Der Inspektionsführer: ‚Wenn Ihnen der Name einfällt, können Sie sofort nach Hause gehen.’

‚Mir kann kein Name einfallen.’

‚Also gut. Das Amtsgericht Köpenick ist heute ausgeräumt worden. Dort haben Sie Zeit, über den Namen nachzudenken. Wenn er Ihnen dort auch nicht einfallen sollte, dann sicher im Konzentrationslager. Dort können Sie auch Ihre psychologischen Eignungsprüfungen fortsetzen.

Um Ihren kleinen Bruder brauchen Sie sich dann keine Sorgen zu machen. Für den sorgen wir. Wir haben gute nationalsozialistische Fürsorgeheime, dort wird er anständig erzogen und nicht marxistisch wie bisher.

Wir geben Ihnen jetzt noch hier Zeit zum Überlegen. Wir müssen noch eine Aktion durchführen. Wenn ich zurück-komme, wird Ihnen der Name schon eingefallen sein. Im Übrigen können Sie hier Milch und Brot bekommen, wie unsere Leute.’

Er stand auf, um wegzugehen. Ich trat an ihn heran und sagte: ‚Es nützt nichts, wenn Sie mich hier behalten. Mir kann der Name nicht einfallen. Lassen Sie mich nach Hause gehen zu meinem Bruder.’

‚Ich habe die Gewalt. Ich könnte Sie entlassen. Aber es fällt mir nicht ein, Sie jetzt schon freizulassen. Der Name muss Ihnen einfallen.’

Man forderte mich auf, in die Küche zu gehen, vor der zwei SA-Leute Aufstellung nahmen. Es war inzwischen wohl 20 Uhr geworden. Kaum hatte der Inspektionsführer mit seinen Leuten das Haus verlassen, als einer der SA-Wachen – biedere Leute – zu mir trat und mir eine Zigarette anbot, die ich ablehnte als Nichtraucher. Dann brachten sie mir Milch. Der andere bot mir eine seiner Stullen an, die ihm seine Frau gebracht hatte.

Um 12 Uhr nachts erschien der Inspektionsführer mit seinem Stab. Ich wurde in sein Zimmer gerufen und das Ausfragen begann von Neuem. Die erste Frage war: ‚Ist Ihnen der Name jetzt eingefallen?’

‚Er kann mir nicht einfallen. Ich weiß ihn nicht.’

Der Inspektionsführer machte ein etwas ratloses Gesicht und blickte sich Hilfe suchend bei seinen Kameraden um. Auch dort Stillschweigen. Nach ein paar Minuten sagte er: ‚Ich werde jetzt das Amtsgericht Köpenick verständigen, dass wir Sie bringen werden.’

Er machte eine Bewegung zum Telefon hin, zögernd und darauf lauernd, dass ich jetzt vor Angst den Namen nennen würde. Da klingelte das Telefon. Er nahm den Hörer ab und sprang gleich darauf entsetzt und wütend vom Stuhl auf, stampfte auf die Erde und schrie: ‚Die Schweinehunde haben einen unserer Kameraden bei einer Haussuchung in der Siedlung Köpenick erschossen. Sofort auf, zur Vergeltung!’

An dieser Stelle ist im Manuskript von Frieda Vogel handschriftlich vermerkt, sie habe den besagten Brief ihrer Eltern „allein am Gartentor unseres Hauses, von Johannes Stelling“16) in Empfang genommen. Frieda Vogel schützte an jenem Abend also einen langjährigen SPD-Reichstagsabgeordneten, der in enger Verbindung zu ihrem Vater stand. Im Verlauf des hier geschilderten Abends ereignete sich in Köpenick ein Feuergefecht, bei dem drei SA-Männer von einem jungen Reichsbanner-Angehörigen namens Anton Schmaus erschossen wurden, nachdem sie auf das Grundstück seiner Eltern eingedrungen waren und seine Mutter Katharina Schmaus bedrohten. Daraufhin verübte die SA in der so genannten „Köpenicker Blutnacht“ aus Rache insgesamt zwanzig brutale Morde, denen auch der am Fall Schmaus völlig unbeteiligte Johannes Stelling zum Opfer fiel.

Ich dachte natürlich, jetzt hätten sie an mir gleich das nächstliegende Objekt für ihre Vergeltung, blieb aber kaltblütig und bewegungslos sitzen. Der Inspektionsführer nahm zum Gedenken des Toten die Mütze ab. Zögernd folgten die übrigen SA-Männer, in den Mienen Gleichgültigkeit und Stumpfheit. Aber leisen Missmut verrieten sie. Darüber, dass sie jetzt nach der harten Arbeit des Tages statt des erhofften Schlafes von Neuem die Jagd beginnen mussten. Zu mir gewendet sagte der Inspektionsführer: ‚Es fällt mir gar nicht ein, Sie zu entlassen. Ich habe die ganze Nacht Zeit, so lange, bis Ihnen der Name einfällt. Sie gehen jetzt wieder in die Küche und warten, bis ich zurückkomme.’

Dann verließ er mit seinem Stab das Zimmer. Nur ein SA-Mann, der das Telefon zu bedienen hatte, blieb zurück. Zwei Mann brachten mich in die Küche. Der eine flüsterte mir zu: ‚Warum sagen Sie den Namen nicht, dann haben Sie doch Ruhe.’

Ich antwortete laut: ‚Ich weiß ihn doch nicht.’

Der SA-Mann am Telefon hatte uns sprechen hören. Er kam heraus und herrschte mich an: ‚Das Sprechen mit dem Posten ist verboten.’

Die Wache fragte mich, ob ich schlafen wolle. Sie wollten dann das Licht auslöschen. Leider hätten sie kein Feldbett, aber eine Decke wollten sie mir gerne bringen. Ob ich nichts essen oder trinken wolle? Ich bat nur darum, zuhause anrufen zu dürfen, um Ernst und Lina zu beruhigen. Der SA-Mann am Telefon konnte mir das nicht gestatten. Er versprach mir aber, an meiner Stelle anzurufen. Ich hörte auch, dass er mit unserem Haus ein Gespräch führte und meine Bestellung für Ernst und Lina der Besatzung des Hauses auftrug. Der Auftrag aber wurde von dort nicht weitergegeben, wie ich von Ernst und Lina am nächsten Tag erfuhr.

So saß ich bis gegen halb 6 Uhr morgens. Die Wache vor der Türe war müde zum Umfallen. Sie erzählten mir, dass sie seit zwei Tagen nicht mehr aus den Kleidern gekommen seien und ununterbrochen Dienst gehabt hätten. Als ich dazwischen eine halbe Stunde eingenickt war, meinte der SA-Mann vor der Türe: ‚Sie haben aber gut geschlafen. Wir haben es gesehen.’

Um halb 6 Uhr Morgens kam ein Trupp SA-Leute aus Köpenick zurück. Ich wurde in das Inspektionszimmer gerufen. Der Inspektionsführer war jetzt nicht mehr unter ihnen. Einer der SA-Leute erklärte mir: ‚Fräulein Vogel, Sie sind bis auf weiteres entlassen und können jetzt nach Hause gehen.’

Ich lief durch den Wald nach Hause. Vor unserem Haus wehte die Hakenkreuzflagge. Die Glocke war abgestellt. Ich musste über den Zaun klettern und zerriss mir dabei den Rock. Dann klopfte ich an Linas Fenster, um Näheres zu erfahren. Sie verständigte mich, dass eine Wache im Keller unseres Hauses sich einquartiert hätte, dass alle Zimmer abgeschlossen seien und ich den Schlüssel für mein Zim-mer vom Wachhabenden der Besatzung verlangen müsste. Das tat ich. Er war ein älterer, ruhiger SA-Mann, der mir sachlich, ohne Schadenfreude mitteilte, dass ich den Schlüssel meines Zimmers stets bei Verlassen des Hauses abgeben müsste. Dass ich mich stets abzumelden hätte und beim Verlassen des Hauses kontrolliert würde. Ich erklärte ihm, dass ich jetzt sofort zur Arbeit gehen wollte. Er solle Sturmführer Scholz von meinem Vorhaben verständigen. Das geschah. Scholz ließ mir bestellen, dass ich jederzeit im Hause ein und ausgehen könnte, mich aber stets zur Kontrolle beim Wachhabenden zu melden hätte.

Dann ging ich zu Ernst. Der hatte vor Angst und Sorge fast die ganze Nacht nicht geschlafen. Abends hatte er Willi am Hirschgartener Bahnhof nicht getroffen und war lange ziellos herum geirrt, weil ihm vor zu Hause graute, denn er hatte unterwegs erfahren, dass sie mich verhaftet hatten. Er meinte zu mir: ‚Das gestern war der schwerste Tag meines Lebens.’

Lina erzählte mir, dass cirka eine halbe Stunde nach meiner Verhaftung das Haus von acht bis zehn Mann besetzt wurde. Noch einmal wurden sämtliche Zimmer durchschnüffelt. Sicher ohne Befehl des Sturmführers, aus Neugierde und Sensation. Dann musste Lina den Leuten im Keller ein Lager zurecht machen. Die Leute holten sich das Radio hinunter. Die halbe Nacht machten sie Lärm. Das Herumrennen um das Haus und das Telefonieren nahm kein Ende.

Ich ging aus dem Hause, zum Bahnhof Hirschgarten, fuhr nach Friedrichshagen und ging von dort in die Wohnung Engels’, weil ich Willi dort vermutete. Frau Engel und ihre Mutter waren mit dem Umzug beschäftigt. Ich erzählte ihnen kurz von den Ereignissen dieser Nacht. Meine erste Frage war, ob Willi in Sicherheit sei. Sie erzählten mir, dass er am Abend zu ihnen gekommen, weil ihm unterwegs von verschiedenen Haussuchungen erzählt wurde und er fürchtete, zu Hause ‚Besuch’ vorzufinden. Er ließ durch Frau Engel zu Hause anrufen. Lina erzählte ihm von meiner Verhaftung. Bei einem späteren Anruf antwortete ihr eine fremde Stimme. Da wusste sie, die SA war im Hause. Sie hatten alle Mühe, Willi zurückzuhalten, der unbedingt ins Haus wollte, um sich zu stellen und mich frei zu bekommen. In aller Frühe war er aus dem Hause gegangen, wollte Ernst von der Schule abfangen und mit ihm in die neue Wohnung Engels’ gehen.

Ich erklärte Frau Engel, dass Willi auf keinen Fall von den SA-Leuten entdeckt werden dürfte, da sie ihn in Prag vermuteten und man sie in diesem Glauben lassen musste. Später erzählte mir Frau Engel, dass einige Minuten, nachdem ich ihre Wohnung verlassen hatte, SA angefahren kam, die Engel holen wollte. Wenn sie mich oder Willi dort gefunden hätten!

Natürlich wollten sie von Frau Engel die neue Wohnung wissen. Durch geschicktes Manövrieren von Frau Engel und Geistesgegenwart des Spediteurs wurde die SA getäuscht, die den Möbeltransport bis in das Lager des Spediteurs verfolgte. Erst abends konnten die Möbel vom Lager in die neue Wohnung Engels’ gebracht werden.

Am Abend nach Geschäftsschluss traf ich mich mit Willi und Ernst bei Engels’. Wir besprachen, dass ich noch heute von der Polizei Friedrichshagen polizeilichen Schutz verlangen sollte. Dann bat Willi mich, zu versuchen, seinen Pass, seine Invaliden- und Steuerkarte aus der Wohnung zu schmuggeln.

Fortsetzung auf Seite 2

Hans Vogel

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