Stefan Appelius


Direkt zum Seiteninhalt

Der Engel der Flüchtlinge

Uni Potsdam > NS-Diktatur

Der Retter wird 90
Immer wieder entkam Fritz Heine den Nazi-Häschern

Von Stefan Appelius

Er hat während der nationalsozialistischen Terrorherrschaft Pässe gefälscht und unzähligen Menschen das Leben gerettet: Fritz Heine, der "Engel von Marseille". Die Nazis haben ihn gnadenlos gejagt, doch gefasst haben sie ihn niemals: "Ich habe tausend und mehr 'illegale' Dinge getan, die mich nach NS-Gesetzen mindestens ins KZ gebracht hätten." Wo andere die Faust in der Tasche ballten, setzte der Weggefährte von Kurt Schumacher und Erich Ollenhauer sein Leben ein. Am 6. Dezember wird der letzte große, alte Mann der Nachkriegs-SPD in seiner Heimatstadt Bad Münstereifel 90 Jahre alt.

Im Frühjahr 1925 wurde die SPD-Spitze in Berlin auf den 20jährigen Hannoveraner aufmerksam. Schon drei Jahre später übernahm Fritz Heine als Propaganda-Chef den Aufbau der größten Abteilung im SPD-Parteivorstand. Der hemdsärmelige junge Mann leitete ohne viel Aufhebens die zweite große Modernisierung der reichlich überalterten Partei ein, nachdem Friedrich Ebert 1906 die ersten Schreibmaschinen in einem Parteibüro aufstellen ließ. Auch die Machtübernahme der Nationalsozialisten überraschte Heine nicht. Er gehörte zu einer Gruppe junger Sozialdemokraten, die schon ein Jahr zuvor Waffen in das Gebäude des SPD-Parteivorstands schafften.

In der Nähe Berlins richtete die Gruppe eine illegale Sendestation ein, um die Parteiführung nach einem Putschversuch der Nazis mit den Genossen im Lande zu verbinden. Nach Hitlers Machtübernahme verbrannten Heine und seine Freunde zunächst die Akten des Parteivorstandes, um sie nicht in die Hände der Nazis fallen zu lassen. Dann schafften sie in letzter Minute große Teile des Parteivermögens ins Ausland: "Wir waren alle bewaffnet und jeder von uns trug einige 100.000 Mark mit sich herum." In der Berliner Lindenstraße blieb nur ein gut verschlossener Panzerschrank mit wertlosem Inflationsgeld zurück.

Heine tauchte unter und verhalf bekannten Sozialdemokraten wie Erich Ollenhauer zur Flucht nach Prag. Schließlich musste er selbst das Land verlassen. Innerhalb von kürzester Zeit wurde ein Netz von Grenzsekretariaten und Stützpunkten für die Widerstandsarbeit entlang der deutschen Grenze geschaffen. Heine war nahezu jedes Wochenende irgendwo an der deutsch-tschechischen Grenze, zumeist im Riesengebirge. Er war "Mädchen für alles" im Prager Exil: "Ich hatte als Einziger mein Bett im Büro, sparte auf diese Weise Miete und Zeit. Gegen das Ungeziefer sollten vier mit Petroleum gefüllte Konservendosen helfen, in die die Bettenbeine gestellt wurden."

Gut ein Dutzend Mal reiste er als geheimer Kurier ins "Dritte Reich". Die Nazis waren ihm oft auf der Spur. In einer alten Gestapo-Akte heißt es: "Heine, Vorname Friedrich, geb. am 6.12.1904 in Hannover, zuletzt in Berlin, Lindenstr. Nr. 2 wohnhaft. Heine reist auch mit dem Namen Petroseck, Johannes. Nähere Einzelheiten über seine Person sind durch Berlin, Gestapa II/1 A 2 zu erhalten." Doch Heine war klüger als die braunen Häscher und entging seinen Verfolgern stets.

Am 20. April 1938 erhielt Heine die Einreisegenehmigung nach Frankreich. Schon zwei Tage später traf er in Paris ein. Hier erfuhr er von seiner Ausbürgerung durch die Nationalsozialisten. Von seinem kleinen Zimmer über die Dächer nach Notre Dame zu sehen, im Menschengewühl der Rue Sébastopol zu schwimmen - das sind Augenblicke, die er bis heute nicht vergessen hat. Doch die Geldmittel wurden knapp und die Arbeit auch politisch immer schwieriger. Wenige Tage nach Kriegsausbruch starb SPD-Chef Otto Wels. Die Situation wurde immer unübersichtlicher. Heine blieb zunächst auf freiem Fuß. Sein Name fand sich in einer "Liste international bekannter Antifaschisten" des französischen Innenministeriums. Doch im Mai 1940 half auch das nicht mehr. Deutsche Truppen marschierten in Frankreich ein.

Heine hatte sich im Internierungslager einzufinden: "Nach einigen Tagen wurde per Lautsprecher mitgeteilt, dass man sich 'freiwillig' melden könne, wenn man als Arbeitssoldat tätig sein wolle. Ich meldete mich. Wir sollten Schützengräben ausheben. Dazu kam es aber nicht, weil die deutschen Armeen weiter vorrückten und sich die französische Armee und Verwaltung in Auflösung befand."

Es gelang Heine buchstäblich im letzten Moment, sich nach Marseille abzusetzen. Hier organisierte er in Zusammenarbeit mit dem "Emergency-Rescue-Committee" des legendären amerikanischen Journalisten Varian Fry die Rettung mehrerer hundert Flüchtlinge. Heines Aufgabe bestand darin, möglichst viele Emigranten aus Frankreich herauszubringen. Am schlimmsten erging es "Staatenlosen" wie ihm selbst. Die meistenm von ihnen hatten einen grünen Flüchtlingspass "titre de voyage".

Den aber erkannte Spanien als Transitland häufig nicht an. Pass-Fälscher hatten Hochkonjunktur. Heine bezog ein Zimmer im "Hotel de Berne", am Fuße des Marseiller Bahnhofs. Es wurde rasch zur Hauptanlaufstelle vieler Flüchtlinge. Unterstützt von zwei Sekretärinnen blieb Heine mitten im Flüchtlingselend gleichsam eine Art ruhender Pol. "Und doch war gerade er einer der Gefährdetsten, denn er konnte täglich wegen 'Menschenschmuggel' verhaftet werden", notierte 1945 die in New York erscheinende "Neue Volkszeitung".

Wer keinerlei Ausweispapiere und keine feste Wohnung hatte, musste stets gegenwärtig sein, bei geringfügigstem Anlass zu einem Verhör geholt zu werden. Wenn es sich um jemanden handelte, der von der Gestapo gesucht wurde, so war es nur eine Frage der Zeit, wann er ausgeliefert werden würde. Erich Ollenhauer ermahnte Heine mehrfach, Marseille endlich zu verlassen. Heine aber blieb, um weiteren Flüchtlingen zu helfen. Die israelische Regierung hat Heine deshalb 1988 zum "Gerechten der Völker" ernannt.

Mitte Januar 1941 wurde bekannt, dass Fritz Heines Name auf einer Liste der Personen auftauchte, deren Auslieferung die Deutschen aufgrund des Artikel 19 des Waffenstillstandsabkommens von Frankreich verlangten. Das Risiko seiner Verhaftung wuchs damit beträchtlich. Fritz Heine blieb unter diesen Umständen gar nichts anderes übrig, als den Versuch zu machen, auf irgendeine Weise außer Landes zu kommen. Zuvor aber versuchte er, die beiden prominenten SPD-Politiker Breitscheid und Hilferding vor der drohenden Verhaftung zu retten. Doch sein Plan, die beiden alten Herrn heimlich auf ein Schiff ins rettende Ausland zu schaffen, scheiterte am Nein der beiden Politiker. Sie hofften, sich auf andere Art retten zu können. Ein Irrtum, der ihnen das Leben kosten sollte.

Ende Juni 1941 traf Heine aus Lissabon kommend in London ein. Einem Freund schrieb er: "Ich fühle mich fast überall heimisch und hier natürlich erst recht. Ich fürchte, meine Vagabundennatur hilft mir dabei mehr als nötig ist und aus Heimweh brauchte ich sicherlich nicht zurückzugehen..."

Im August 1942 entschloss sich Heine zur Mitarbeit im "Political Intelligence Department", einer Abteilung des britischen Geheimdienstes. Es war die Fortsetzung seiner Widerstandstätigkeit unter den Bedingungen des Krieges: "Es gibt nichts, was ich nicht mitzumachen bereit bin, um diejenigen, die verbrecherisch an den Völkern handelten, für alle Zeiten zu hindern, nochmals die Hand gegen Andere zu erheben. Aber eben deshalb fühle ich mich nicht als zu ihnen gehörig, sondern als Alliierter der gerechten Sache und wünsche, dass mich auch andere so ansehen."

Kaum war der Krieg zuende, kehrte Heine nach Deutschland zurück. Von Hannover aus wurden die Vorbereitungen für die Zulassung der SPD getroffen. Ein notdürftig mit Brettern renoviertes Büro bildete die erste Anlaufadresse der Sozialdemokraten in der britischen Besatzungszone. Fortan blieb Heine als Mitglied des Geschäftsführenden Parteivorstands und SPD-Pressechef im Rampenlicht der Öffentlichkeit. "Lange Jahre ist wohl kaum etwas gegen den erklärten Widerstand von Fritz Heine geschehen", meint rückblickend Hans-Jochen Vogel.

Fritz Heine, Erich Ollenhauer und Alfred Nau - wegen ihrer Vorliebe für dieses Kartenspiel auch "der Skatclub" genannt - waren in den Nachkriegsjahren als begabte Organisatoren
das Führungstrio der SPD. Doch Heines anfänglich fester Überzeugung, die SPD könne freie gesamtdeutsche Wahlen gewinnen, stand Mitte der 50er Jahre die bittere Erfahrung gegenüber, in Westdeutschland gegen Konrad Adenauer nicht wesentlich über die 30-Prozent-Marke hinaus zu gelangen.

Es war ein höchst ungleicher Kampf. Setzte man die Wahlkampf-Aufwendungen der CDU zur SPD in ein Verhältnis, belief es sich finanziell auf 100 : 0,8 und personell auf 100 : 3,4. Auch viele bundesdeutsche Zeitungen waren damals nicht gerade SPD-freundlich. "Die Mehrzahl der Unabhängigkeit proklamierenden Zeitungen hat sich in Wirklichkeit zu Organen der Adenauer-Regierung entwickelt. Und manche von ihnen schenken einem entlaufenen Hund mehr Beachtung als den Argumenten der Opposition", notierte SPD-Wahlkampfleiter Heine frustriert: "Wenn man in Bonn sitzt, kann man eben nur schwarz sehen, soweit man überhaupt etwas zu sehen bekommt."

Das wackere Häuflein um Erich Ollenhauer hatte nicht den Hauch einer Chance gegen Adenauer. Grund genug für parteiinterne Reformer, den Wandel der SPD zur Volkspartei zu propagieren. Es war ein Aufstand gegen die "Baracke". Der Unmut der Genossen richtete sich gegen Ollenhauer, den viele für einen ungeeigneten Oppositionsführer hielten. Der Vorsitzende aber war tabu. Der Zorn der Reformer traf stattdessen Ollenhauers Chefstrategen. Im Frühjahr 1958 musste der "bestgekleidete Genosse" in der Baracke seinen Hut nehmen - das prominenteste Opfer der sozialdemokratischen Parteireform. In die Baracke zogen statt Heine als dessen Nachfolger Herbert Wehner und Waldemar von Knoeringen ein.

Fritz Heine rückte stattdessen im Sommer 1958 zum Direktor des damaligen sozialdemokratischen Medien-Imperiums auf. Die Sozialdemokraten blickten in den 50er Jahren auf eine tägliche Gesamtauflage der ihnen nahestehenden Presse von 1,5 Millionen Zeitungsexemplaren und einen Jahresumsatz von 140 Millionen Mark. In ihren Zeitungen, zu denen so klangvolle Titel wie der Berliner "Telegraf", die "Hannoversche Presse" und die "Westfälische Rundschau" gehörten, waren mehr als 15.000 Menschen beschäftigt.

Fritz Heines Ziel war die "populäre, gute, sozialdemokratische Volkszeitung". Die aber ließ sich zunehmend schlecht verkaufen. Das Medien-Imperium geriet ins Trudeln. Helmut Schmidt hält den Untergang rückblickend für selbstverschuldet: "Die Zeitungen waren absolut unattraktiv für jeden Leser, der nicht ein eingefleischter Sozi war und es für seine vaterländische Pflicht hielt, seine sozialdemokratische Tageszeitung zu halten." Der Bevölkerungswandel tat ein übriges: Den Leser dürstete es statt "Meinungspresse" nach "unabhängigen" Informationen.

Heine vermochte dem Mythos der Unabhängigkeit nichtsw entgegen zu setzen - die Gesamtauflage seiner Zeitungen sank ständig. Nur Boulevardblätter verzeichneten sprunghafte Gewinne. Zum auflagenstärksten Meinungsbildner wurde die "Bild"-Zeitung. Auch sozialdemokratischen Boulevardblättern gelang das Überleben nicht. Schließlich begann die sozialistische Presse - allerorten als höchst langweilig verschrieen - auszusterben.

Fritz Heine und seine Frau Marianne leben seit Anfang der 60er Jahre in Scheuren bei Bad Münstereifel. Intensives Zeitungsstudium und Briefkontakr mit weit mehr als hundert Freunden in aller Welt halten den Mann mit den wachen, stahlgrauen Augen jung.


Dieser Beitrag wurde am 3. Dezember 1994 im "Bonner General-Anzeiger" veröffentlicht.

Fritz Heine, Gerechter der Völker

Fritz Heine

Fritz Heine wurde am 6. Dezember 1904 als Sohn eines Orgelbauers in Hannover geboren. Nach einer kaufmännischen Ausbildung wurde Heine 1925 zunächst Volontär und später Technischer Leiter beim SPD-Parteivorstand in Berlin. 1932 wegen Beleidigung eines NSDAP-Politikers zu einer Bewährungsstrafe verurteilt, emigrierte Heine nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten im Frühjahr 1933 nach Prag. Von dort aus organisierte er ein Netzwerk an Widerstandsgruppen, die mit Publikationen und Informationen aus Prag versorgte. Im Frühjahr 1938 siedelte Heine nach Paris über. Nachdem er im Frühjahr 1940 einige Wochen in einem Internierungslager verbringen musste, setzte sich Heine nach Südfrankreich ab. In der Hafenstadt Marseille eröffnete er ein „Büro für Auswandererberatung“, in dem er bis Anfang März 1941 tätig war. In dieser Zeitspanne rettete Fritz Heine - teilweise in Zusammenarbeit mit dem Amerikaner Varian Fry vom Emergency Rescue Committee (ERC) - unzählige Menschenleben, indem er Flüchtlinge mit Lebensmitteln versorgte und ihnen in vielen Fällen Visa zur Flucht in ein sicheres Drittland verschaffte. Später hat man ihn deshalb auch den "Engel der Flüchtlinge genannt". Anschließend reiste Heine über Lissabon nach London, wo er als Mitglied des Exil-Parteivorstandes für das Foreign Office tätig war.

Anfang Februar 1946 kehrte Heine gemeinsam mit Erich Ollenhauer nach Deutschland zurück. Heine wurde auf dem SPD-Parteitag in Hannover (1946) in die Parteispitze gewählt und war bis zu seiner Abwahl im Frühjahr 1958 für Presse und Propaganda zuständig. Von 1958 bis 1974 amtierte er als Geschäftsführer der „Konzentration GmbH“ in Bonn. Heine lebte zuletzt in Scheuren bei Bonn. Er wurde unter anderem mit dem israelischen Ehrentitel „Gerechter der Völker“ (1986), der Ehrenbürgerschaft der Oldenburger „Carl von Ossietzky Universität“ (November 2001) und mit dem „Stern zum Großen Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland“ (April 2002) ausgezeichnet. Fritz Heine starb am 5. Mai 2002 in Zülpich.

Home | Kontakt | Universität Oldenburg | Universität Potsdam | Politisches Lernen | Sitemap


Zurück zum Seiteninhalt | Zurück zum Hauptmenü